Ein nachdenklicher Rückblick auf 2017

Erwin Koller4. 1. 2018

Wer möchte da behaupten, was auf Felsen gebaut sei, könne von den Pforten der Unterwelt nicht überwältigt werden?
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Ein nachdenklicher Rückblick auf 2017

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Wer möchte da behaupten, was auf Felsen gebaut sei, könne von den Pforten der Unterwelt nicht überwältigt werden?

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foto: die Toten wird man wohl nie finden. Giancarlo Cattaneo, fotoswiss

alles fliesst

felsenfest stehen die steine
gebirge aus gehärtetem granit
gebaut für die ewigkeit
doch der stein trügt

hitze und frost
band in band mit
dem wechselnden wind
zermahlen das gestein

für die grosse sanduhr der zeit
lawinen aus geröll
donnern in die tiefe
und weiche wasser

runden die kiesel
rollen sie bis ins meer
kein stein bleibt
auf dem andern

der festeste fels
wird wegbewegt
und am ende der tage
vielleicht sogar
der schlussstein
meines grabes

Andreas Knapp (geb. 1958) hat dieses Gedicht (Beim Anblick eines Grashalms. Naturgedichte, Würzburg 2017, 76), das die Gefühlslage des vergangenen Jahres treffend erfasst, schon 2015 verfasst. Er ist Kleiner Bruder vom Evangelium im Geiste von Charles de Foucauld und wirkt in Leipzig als Gefängnisseelsorger. Die Gedichtbände des Sprach- und Gottsuchers gehören zur eindrucksvollsten und meistgelesenen spirituellen Poesie unserer Zeit. Andreas Knapp erhält am Sonntag, den 11. März 2018 in Luzern den Herbert Haag Preis für Freiheit in der Kirche – zusammen mit dem Regisseur Volker Hesse aus Zürich. Zur Preisverleihung ist jedermann eingeladen – bei freiem Eintritt und ohne Anmeldung (Hotel Schweizerhof, 15h30).

 

-Ein nachdenklicher Rückblick auf 2017

Als Alpinist hat mich 2017 kaum etwas so erschüttert wie die Bilder des Bergsturzes von Bondo/CH im vergangenen August. Wer selber auf den Bergeller Bergen im äussersten Südosten der Schweiz herumgeklettert ist und ansehen musste, wie sich der Piz Cengalo aufspaltete, gewaltige Felsmassen in die Tiefe donnern liess, das Tal unter sich begrub und mit der Wucht eines Murgangs sogar Teile des Dorfes Bondo verschüttete, der verliert Halt für die Hände und Boden unter den Füssen. Er kann darin schwerlich etwas anderes erkennen als das Bild einer tief verunsicherten Welt, weit über jedes Mass hinaus, das wir bisher an das Ungewisse gelegt haben.

Drei Wochen vor diesem Bergsturz haben wir im Wallis beim Aufstieg von Saas Fee zum Allalinhorn ungläubig die Augen gerieben, als wir die nackten Felswände sahen: Die uns vertrauten dicken Gletscherflanken sind in ein, zwei Jahrzehnten einfach weggeschmolzen. Wer will da noch vom ewigen Schnee reden? Wer im Alpenfirn ein Symbol des Ewigen erahnen (deine fromme Seele ahnt …, heisst es in der Schweizer Nationalhymne)? Wer möchte da behaupten, was auf Felsen gebaut sei, könne von den Pforten der Unterwelt nicht überwältigt werden?

Unsere Generation ist in Westeuropa aus den Erschütterungen des Weltkriegs herausgekrochen und hat in einer wirtschaftlich aufblühenden, kulturell aufregenden und politisch halbwegs befriedeten Welt ein neues Gefühl von Sicherheit gewonnen. Unsere Enkelinnen und Enkel werden wieder lernen müssen, wo sie Vertrauen gewinnen, wenn der Fels bebt und der Boden unter ihren Füssen wegschwimmt.

 

 

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