Requiem für einen Bischof

Joachim Jauer22. 3. 2021

Die "Verborgene Kirche" in der Tschechoslowakei
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Joachim Jauer war fast 20 Jahre lang DDR-Korrespondent für das ZDF. Bild: © KNA

Mit freundlicher Erlaubnis des Autors und des Verlags wortwörtlich aus der Wochenzeitschrift CHRIST IN DER GEGENWART Nr. 7/2021, Freiburg i. Br., übernommen.

Nirgendwo in Mitteleuropa wurde die katholische Kirche so hart verfolgt wie in der früheren Tschechoslowakei. Etliche stellten sich mutig dagegen. Doch an Felix Maria Davídek (1921–1988), einen Bischof, der im Untergrund wirkte, erinnert selbst die Kirche bis heute nicht gern. Soeben wäre er hundert Jahre alt geworden.

Die katholische Kirche der ehemaligen Tschechoslowakei kennt viele Glaubenszeugen, die unter Verfolgung gelitten haben: etwa Kardinal Štěpán Trochta, Bischof von Litoměřice/Leitmeritz, der von den Kommunisten ebenso eingekerkert wurde wie vor 1945 von den Nazis und der im „Verhör“ an Herzversagen starb. Oder Dorfpfarrer Josef Toufar, den die Staatssicherheit zu Tode folterte und der heute wie ein National-Heiliger verehrt wird. Bischöfe wurden in Schauprozessen als „Feinde des Volkes und Agenten des Vatikans“ zu hohen Haftstrafen mit anschließendem Berufsverbot und Hausarrest verurteilt. Unzählige Priester wurden verfolgt, Ordensschwestern und Mönche aus ihren Klöstern vertrieben.

An Felix Maria Davídek, einen Bischof, der im Untergrund wirkte, erinnert die Kirche allerdings nicht gern. Denn Davídek hat als Hirte in der „Geheimen Kirche“ gegen römisches Recht und katholische Tradition verstoßen. Er hat Frauen und verheiratete Männer zu Priestern geweiht und sogar eine Frau zu seiner Generalvikarin ernannt.

Frauen zur Tarnung

Nur wer vergisst, in welch finsterer Zeit Davídek gehandelt hat, mag heute über sein eigenwilliges Wirken den Kopf schütteln. Nirgendwo in Mitteleuropa wurde die katholische Kirche so hart und konsequent verfolgt wie in der ehemaligen Tschechoslowakei. „Wir müssen die Kirche neutralisieren und in unsere Hände bekommen, damit sie dem Regime dient, weg von Rom und hin zu einer Nationalkirche“, forderte 1948 der tschechische Stalinist Klement Gottwald. Verheiratete Priester und eine Frau im bischöflichen Stellvertreteramt waren zwar kirchenrechtlich unmöglich – aber zugleich die sicherste Tarnung gegenüber den Spitzeln und Denunzianten der Staatssicherheit. Denn die konnte sich nicht vorstellen, dass so etwas in der hierarchisch gefügten römischen Kirche möglich sei. Doch Davídek und seiner Untergrund-Gemeinde war alles daran gelegen, den Gläubigen Seelsorge und Sakramente zu bewahren. Er selbst war durch Bischof Jan Blaha 1967 rechtmäßig zum Bischof geweiht worden.

Schon nach Kriegsende waren mit den Sudetendeutschen auch mehr als 1500 Priester vertrieben worden. Damit wurde die katholische Kirche in weiten Landesteilen von Böhmen und Mähren erstmals Diaspora. Kurz nach der Machtübernahme starteten dann die Kommunisten ihr kirchenfeindliches Programm. 1950 wurden alle Männerorden aufgehoben, die Mönche zur Zwangsarbeit verurteilt, Ordensfrauen in Industrie oder Landwirtschaft geschickt. Die Partei förderte eine „Katholische Aktion“ mit regimefreundlichen Priestern und Laien.

Da es Mitte der siebziger Jahre nur noch in einem Viertel aller Pfarreien einen romtreuen Priester gab, die meisten Bischöfe im Gefängnis oder zumindest im Hausarrest waren, trieb Davídek die Sorge um, kirchliches Leben werde auf Dauer völlig verschwinden. Schlimmer noch: Er fürchtete, dass der verbliebene Rest der Kirche durch die sogenannten Friedenspriester von innen zerstört würde. Das waren regimetreue, von den Kommunisten alimentierte Kleriker, die ihren Verein mit Bezug auf die gleichnamige Enzyklika von Papst Johannes XXIII. – zynisch – „Pacem in terris“, Friede auf Erden nannten.

Die „Verborgene Kirche“ lebte im Widerstand konspirativ. Auch viele ihrer kleinen Gruppen wussten kaum voneinander, und offizielle Kirchenkreise erfuhren erst nach dem Ende der kommunistischen Zwangsherrschaft von ihrer Existenz. Davídek nannte seine Gemeinde „Koinótés“, von griechisch koinonía – Gemeinschaft, eine „Ortskirche im totalitären System“. Der außergewöhnlichen Lage war er sich selbstkritisch bewusst: „Die Kirche … muss sich öffnen, auch trotz möglicher Irrtümer, die daraus entstehen können. Das ist eine schreckliche Verantwortung.“

Die verborgene Koinótés darf nicht verwechselt werden mit der geheimen Seelsorge, von Priestern mit Berufsverbot. Diese Priester feierten heimlich Gottesdienste und spendeten die Sakramente. Einen von ihnen, Václav Malý, der nach zahlreichen Verhaftungen zu Zwangsarbeit als Heizer und Toilettenreiniger verurteilt war, habe ich als Korrespondent zu einer Eucharistiefeier mit etwa 15 Gläubigen in einer Plattenbauwohnung am Rande der Stadt begleitet. Nie werde ich vergessen, wie diese kleine Gemeinde – mit dem Priester auf dem Boden sitzend – flüsternd „Kyrie eleison“ sang. Der spätere Kardinal von Prag, Miloslav Vlk, ebenfalls Pfarrer mit Berufsverbot, wurde von der Partei als Fensterputzer eingesetzt. Während er in der Innenstadt von Prag Schaufenster reinigte, gingen Mitglieder seiner Gemeinde auf der Straße zur Beichte. Da habe er, so sagte mir der Kardinal schmunzelnd, mit der Linken das Fenster und mit der Rechten die Seelen gereinigt.

Bis heute: geheim

Zurück zu Koinótés, dieser Kirche in der Stille. Jahre nach der „Samtenen Revolution“ versuchte ich in der mährischen Metropole Brno/Brünn Näheres zu erfahren. Im bischöflichen Ordinariat teilte man mir mit, man wisse nichts über Davídek, der als rechtmäßig geweihter Bischof, allerdings weitgehend inkognito, im kirchlichen Untergrund gelebt habe. Es seien nur Gerüchte im Umlauf. Wo das Grab des 1988 Verstorbenen sei, könne man nicht sagen. Beim Hinausgehen flüsterte mir eine Mitarbeiterin zu, das Grab liege auf dem Friedhof nahe dem Flugplatz. Wir fanden es, versehen mit einem großen Gedenkstein und auffallend reichem, frischem Blumenschmuck.

Ich habe auch versucht, Kontakt mit der von Bischof Davídek 1970 geweihten Generalvikarin Ludmila Javorová aufzunehmen. Es kam nur zu einem kurzen Gespräch an ihrer Wohnungstür, weil sie Angst vor einem Interview hatte. Sie sagte, sie sehe sich jetzt von Vertretern der Kirche verfolgt. Daher meide sie die Öffentlichkeit. Frau Javorová (88) lebt heute zurückgezogen in Brno.

Felix Maria Davídek, der als junger Priester 14 Jahre im Gefängnis gesessen hatte, lehnte jeden Kompromiss mit Staat und Partei ab. Nur so ist zu verstehen, dass er immer tiefer in die Isolation geriet und später ohne Einwilligung des Vatikan Frauen zu Priestern und verheiratete Männer sogar zu Bischöfen weihte. Eine solche Einwilligung hätte er übrigens angesichts der staatlichen Überwachung solcher Kontakte gar nicht einholen können. Davídek berief sich auf Papst Pius XII., der 1949 angesichts der Kirchenverfolgung in der Tschechoslowakei die Weihen geheimer Bischöfe empfohlen hatte. Bald danach, 1950, waren sechs von ihnen verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Davon erfuhr Davídek noch in seiner Gefängniszelle. Die völlige Geheimhaltung und zugleich „Irreführung“ der Behörden mit der Weihe verheirateter Männer hatten also ihren Grund. Diese „Tricks“ haben dazu beigetragen, dass katholisches Leben in der Diktatur überwintern konnte.

Nach der Wende aber war plötzlich alles anders. Verheiratete Kleriker und eine geweihte Generalvikarin obendrein waren der römischen Kirche alles andere als willkommen. Davídeks Weihen wurden für ungültig erklärt. Die ehelos lebenden Priester konnten sub conditione, also unter der Voraussetzung, dass ihre Weihe ungültig war, noch einmal gültig geweiht werden. Verheiratete aber sollten auf ihr Priesteramt verzichten oder zum byzantinischen Ritus der Slowakei wechseln, welcher die Eheschließung von Priestern gestattet. Einige Davídek-Priester lehnten das ab, weil sie sich sakramental gültig geweiht sahen. Römisch-katholisch wurde Jan Kofron als einziger verheirateter Koinótés-Priester sub conditione im Mai 2008 wiedergeweiht. Der Vater von vier Kindern erhielt dazu sogar die Zustimmung des Vatikan, sollte aber nicht als Gemeindepfarrer eingesetzt werden. Er ist Krankenseelsorger in Prag.

Nachsichtig verhielten sich die Kirchenoberen nach der Wende gegenüber denen, die als „Friedenspriester“ mit dem Regime kollaboriert und davon profitiert hatten. Sie waren nach dem Urteil des Vatikan gültig geweiht – vor allem aber nicht verheiratet – und wurden, allerdings ohne herausgehobene Kirchenposten, wieder in die Seelsorge übernommen. Ein Verstoß gegen den Zölibat schien also schwerwiegender als die Kumpanei mit einem menschen- und kirchenfeindlichen Regime.

Lieber unterwürfig sein?

Tschechien hält heute als kommunistische Hinterlassenschaft einen Spitzenplatz unter den atheistischen Regionen der Welt. Dass es die katholische Kirche nicht noch schlimmer getroffen hat, ist auch das Verdienst der geheimen Seelsorger, die von Bischof Davídek geweiht worden sind.

Die „Verborgene Kirche“ in der ehemaligen Tschechoslowakei ist Geschichte. Es gab in ihrer Zeit Versagen, Verwirrung und Eigenmächtigkeit, vielleicht sogar Hang zu bewusstem Ungehorsam gegenüber Rom, wie immer wieder in der Kirchengeschichte. Bei der Aufarbeitung der geheimen Koinótés-Praktiken wird für den verborgenen Bischof Felix Maria Davídek als den kirchenrechtlich „verlorenen Sohn“ ein „barmherziger Vater“ noch gesucht. Papst Franziskus, der von der einst ebenso verfemten Befreiungstheologie gelernt hat, rief zu einem „Jahr der Barmherzigkeit“ auf, Motto: „Barmherzig wie der Vater“. Auf Tschechisch heißt das Milosrdní jako otec.

Joachim Jauer langjähriger Korrespondent des ZDF in Osteuropa und in der DDR, Autor von „Die halbe Revolution. 1989 und ihre Folgen“ (Herder); lebt in Kirchberg am Wald. Quelle: CHRIST IN DER GEGENWART 2021, Heft 7, S. 6 Alle Rechte vorbehalten. Copyright © Verlag Herder, Freiburg.  https://www.herder.de/cig/

 

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